Newsletter April 19

Liebe Eltern, liebe Freunde und Interessierte

 

 

Kinder suchen keine Grenzen, sie wollen Kontakt

Jesper Juul

 

In den letzten Tagen stosse ich immer wieder auf den Begriff "Eltern-Burnout", beobachte aber gleichzeitig auch in meinem Umfeld eine immer grösser werdende Erschöpfung und Müdigkeit, sei es bei den jungen Müttern oder auch bei meiner Tochter kurz vor dem Maturaabschluss. Aber was tun, wenn alles zu viel wird? 

 

Je besser wir ein Gespür für uns selber haben, unsere eigenen Grenzen erkennen und akzeptieren, die Signale des Körpers einordnen und wahrnehmen können, desto besser gelingt es uns auch, unsere individuellen und persönlichen Grenzen im Umgang mit den Kindern (und Erwachsenen) auszusprechen, desto kooperativer werden die Kinder sein, desto weniger Einsamkeit, Konflikte, Stress und Frustration werden die Eltern und Erziehenden erleben.

Eltern zu sein war immer schon schwierig. Vor 60 Jahren hatten Eltern von aussen eine grosse Unterstützung. Es bestand ein breiter moralischer Konsens in der Gesellschaft, das heisst, es gab allgemein akzeptierte Methoden bezüglich der Kindererziehung. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Bedingungen für die Eltern stärker verändert als je zuvor. Wir haben neue Informationen aus der Neurowissenschaft und den Rahmen gemeinsamer Werter und moralischer Übereinstimmung gibt es nicht mehr. Heute tun sich Erwachsene gut daran, Grenzen für sich selbst zu setzen. Wo sind meine persönlichen Grenzen? Was will ich? Was wird mir zu viel?

 

An einer Weiterbildung habe ich einmal folgende Unterscheidung gelesen:

 

Rot

Kategorische Erwartungen, die unbedingt beachtet werden müssen. Eine generelle Grenze, die um das Kind/den Mensch gemacht wird.

 

Rote Erwartungen dienen oftmals zum Schutz des Kindes, d.h. ich beuge ernste Gefährdungen vor indem ich verhindere, dass das Kind auf ein Fenstersims klettert oder auf die Strasse springt.

 

Wir unterbinden diese Versuche aktiv und klar. Die Verantwortung dafür darf nicht an das Kind abgegeben werden. Das heisst, der Erwachsene übernimmt immer die Verantwortung. Werden diese Regeln mit dem Wachsen der Familie und Aufwachsen der Kinder verändert und immer wieder neu angepasst, schaden sie keinem.

 

Ich übernehme Eigenverantwortung

 

Ich will- ich will nicht                     

Verantwortung beim Erwachsenen

 

Du darfst- du darfst nicht            

Verantwortung beim Kind

 

Ich will nicht, dass du mit dem Messer spielst            

Kooperation mit Erwachsenem

 

Man spielt nicht mit dem Messer                                  

Kooperation mit Messer

 

Kind kooperiert lieber mit dem Menschen als mit dem Gegenstand

 

Wenn das Wort Grenze in der Kindererziehung einen Platz einnehmen will, dann  hier:

 

Stop! 

Ich will nicht, dass du dieses Messer nimmst. Das ist zu gefährlich.

Ich will nicht, dass du da raufkletterst. 

 

Das Wort Regeln vermittelt etwas Unabänderliches, jede Familie braucht aber eine Handvoll Regeln um angenehm zusammen zu leben. 

 

Bei uns werden die Schuhe vor der Türe ausgezogen.

Ich will, dass du um 20 Uhr im Bett bist.

Ich will nicht, dass du im Haus Fussball spielst.

 

Der ganze Rest kann aber auch als rosa Erwartung bezeichnet werden, um den flexiblen Charakter zu betonen oder als persönliche Grenze.

 

Von diesen gibt es unendlich viele und es ist nicht schlimm, wenn das Kind sie nicht alle gleichzeitig berücksichtigt. Hier geht es um das Erlernen von sozial akzeptierten Verhaltensweisen, ums Erkennen von persönlichen Grenzen aber auch um Verhandlungen über Grenzen zwischen Eltern und Kind. 

 

Rosa 

Nichtkategorische Erwartungen, es besteht ein gewisser Spielraum. Persönliche Grenzen.

 

Die Unterscheidung dient als Anhaltspunkt, wobei es auch innerhalb der Kategorien Abstufungen gibt und der Übergang von den roten zu den rosa Erwartungen fliessend ist.

 

Wir erwarten, dass das Kind erwünschte Verhaltensweisen mit der Zeit durch unser Vorbild und unsere Hinweise übernehmen wird, rechnen aber nicht damit, dass es auf Anhieb alle guten Sitten beherrscht.

 

Welche Erwartungen haben wir z.B. bei Tisch beim Butterbrot essen?

·     Man legt das Brot auf den Teller nicht daneben

·     Man legt das Brot ab, sodass die Butter nach oben zeigt

·     Man greift nicht in den Teller des andern

·     Man rührt nicht mit dem Messer in der Tasse

·     ....

 

Die eigenen Grenzen zu kennen und benennen zu können, ist keine notwendige Voraussetzung von Elternschaft, sondern ein lebenslanger Lernprozess, der im Umgang mit dem Partner, den Kindern, deren Partnern, den Enkelkindern und unseren eigenen Eltern stattfindet.

Jesper Juul

 

Für mich sind die persönlichen Grenzen sehr wichtig, denn sie gehen häufig vergessen. Wir können unsere eigenen Grenzen am besten dann erkennen, wenn sie übertreten werden. Und ebenso können wir Grenzen der andern nur kennenlernen, indem wir miteinander in Kontakt sind, ohne es zu wollen auch mal mit ihnen zusammenstossen oder in Konflikte geraten.

 

Erwartungen auszusprechen gelingt uns am besten, wenn wir Eigenverantwortung übernehmen, für meine Gefühle, für meine Reaktionen, für meine Werte. Ich muss mich fragen: Was will ich? Wie will ich es haben? Und wenn diese Fragen beantwortet sind lautet die nächste Frage: Wie kann ich es erreichen, ohne mein Kind zu verletzen?

 

Ich kritisiere nicht

 

Höre auf mit dem Klavier zu spielen. Warum muss ich immer alles dreimal sagen?

Du bist doch schon gross genug, um das zu verstehen.

Der Erwachsene erwartet, dass die gestellte Grenze respektiert wird. Gleichzeitig verletzt er die persönliche Grenze des Kindes, den Respekt.

 

Wenn das Resultat immer noch unbefriedigend ist, ist die nächste Frage: Kann ich das, was ich erreichen will, von meinem Kind in diesem Alter erwarten? Erst dann kann ich meine Gedanken/ Gefühlen dem Kind sagen. Dazu wähle ich die persönliche Sprache.

 

Ich bin persönlich

 

Ich möchte- ich möchte nicht                  

schafft Kontakt zum Kind

 

Du darfst- du darfst nicht                          

schafft Abstand und bricht Kontakt

 

Ich möchte nicht, dass du mit dem Klavier spielst

Eine Regel, die es konsequent einzuhalten gilt

 

Ich möchte nicht, dass du jetzt mit dem Klavier spielst, ev. es ist mir gerade zu laut

Persönliche Grenzen können flexibel sein

Das Klavier ist nicht zum spielen da, es ist teuer, das Klavier immer stimmen zu lassen

Erklärungen lenken von Grenze ab. Nur erklären, wenn das Kind fragt.

 

Ich will nicht, dass du an den Haaren ziehst

Auch wenn das Kind von persönlicher Aussage überrascht ist, verliert es nicht an Würde. Es spürt den Ernst, wird aber nicht verletzt.

 

Es sind nicht die Gefühle, die das Kind kränken, sondern die Worte. Ich darf als authentischer Erwachsener durchaus wütend oder hässig sein, aber immer in der persönlichen Sprache und ohne kränkende Worte.

 

Auch wenn die Kinder das gewünschte Verhalten schon kennen, ist es für sie nicht leicht, ihre Impulse zu beherrschen. Kinder nützen in diesen Situationen nicht den Erwachsenen aus und wollen ihn auch nicht testen, sondern sind in ihrer Entwicklung noch nicht so weit, ihren Impuls ohne unterstützenden Blick des Erwachsenen zu zügeln.

Fast alle Erwartungen, über die wir mit den Kindern diskutieren, gehören zu den rosa Erwartungen. 

Die Sprache hat einen besonders hohen Stellenwert bei der Vermittlung der rosa Erwartungen und den Verhandlungen zwischen Eltern und Kindern. Bei Verhandlungen ist beispielsweise hilfreich, laut zu denken, um das Kind, das für seinen Wunsch eintritt, an den eigenen Überlegungen teilhaben zu lassen. Das Kind spürt, dass der Erwachsenen nicht willkürlich entscheidet, sondern seine Entscheidung ernsthaft abwägt und es hat Gelegenheit, weitere Argumente für sein Anliegen einzubringen oder die Bedenken (manchmal braucht es auch Bedenkzeit, womit das Kind fast nie Probleme hat, insbesonders die schon etwas älteren) des Erwachsenen nachzuvollziehen.

 

Die Gewohnheiten können in verschiedenen Haushalten unterschiedlich sein, zum Beispiel darf bei den Grosseltern das Haus mit den Schuhen betreten werden, zuhause werden sie vor der Türe ausgezogen.

 

Wenn das Kind auf ein nein von uns weint, heisst es nicht, dass es unklücklich ist. Es ist frustriert und das Weinen, die Wut oder der Zorn hilft ihm, sich von seinem Wunsch zu verabschieden.

  

Blau

Diese sind mit zukünftigem Reifen und Wachsen verbunden und können nicht als Verhaltenserwartung eingefordert werden.

 

Danke sagen

Entschuldigung sagen

Gesundheit sagen 

Teilen

Auf die Toilette gehen

Um Dinge bitten statt einfach reissen

Sorgfältiger Umgang mit Material

 

„ Forcieren wir nichts! Es ist nicht nur wichtig, dass ein Kind diese oder jene Entwicklungsphase erreicht, sondern ebenso wichtig für seine Entwicklung ist, dass es selbständig, mit seiner aktiven Mitwirkung zu den einzelnen Stufen seiner Entwicklung gelang. Jeder Schritt, den das Kind selbständig macht, erleichtert den nächsten. Langsam, behutsam, geduldig, mit Liebe kann man jedes Kind ohne grössere Zusammenstösse in die Welt der Erwachsenen einführen.“ Emmi Pikler

 

Die Fähigkeit, auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzugehen und ihre Vorstelllungen nachvollziehen zu können, entwickelt sich erst etwa ab dem fünften Lebensjahr. Ganz berechtigt fühlt sich das Kind zunächst noch als Mittelpunkt seiner Welt.

 

Wird vom Kind zu früh erwartet, sich sozial zu verhalten, verunsichert es dies nicht nur, sondern erzeugt in ihm auch das Gefühl, dass es zu kurz kommt. Geschieht es häufig, dass wir Erwachsene meinen, das Kind müsse früh genug lernen abzugeben, sozial zu sein, dann prägt sich ihm ein Gefühl von Mangel ein. Es bleibt ein Nachholbedürfnis ihn ihm zurück.

 

Jesper Juul hat es so wunderbar geschrieben: der Familienalltag, die Erziehung, ja das Leben ist ein Labor. Wir müssen vieles ausprobieren und immer wieder neu mischen und wieder neu ausprobieren. Es gibt kein richtiges und perfektes Verhalten. Es geht darum, dem ganzen „Lebenschaos“ einen Sinn zu geben. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist die Umsetzung seiner Wertvorstellungen. Dazu braucht es Geduld, Wiederholung und vor allem den Willen, mich und das Kind ernst zu nehmen.

 

Was brauchen dabei Kinder?

  • Aufgaben, an denen sie wachsen können,
  • Vorbilder, an denen sie sich orientieren können und
  • Eine Gemeinschaft, in der sie sich aufgehoben fühlen.

 

Die besten Eltern machen 20 Fehler pro Tag

Jesper Juul

 

Was brauchen wir Eltern dabei?

Vielleicht helfen schon diese einfachen Gedanken...

  • Ich bin nicht allein mit dem Gefühl, dass das Leben mit Kindern oftmals anstrengend, fordernd und frustrierend ist. Es ist sehr tröstlich zu wissen, dass es anderen Eltern genauso geht.
  • Ich muss nicht perfekt sein. Das Glück meiner Kinder hängt nicht allein von mir ab.
  • Ich versuche, herausfordernden Momenten mit unseren Kindern gelassen zu begegnen – jeden Tag aufs Neue.
  • Ich wiederhole, wenn es mal besonders anstrengend ist, mantramässig: «Es ist nur eine  Phase. Es geht vorbei.»
  • Ich setze nach Möglichkeit mein "Dorf" ein, d.h. ich hole mir Unterstützung beim Partner, der Schwiegermutter, Gotte, dem Nachbarn.
  • Ich gönne mir bewusst Zeit für mich alleine, beim Sport, kreativen Tätigkeiten, Meditieren... alles was mir gut tut!

 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen ganz viel Gelassenheit, Humor und Zeit und sollten Sie dann noch etwas Zeit übrig haben, verweise ich Sie an dieser Stelle auf unseren aktuellen Jahresbericht. Viel Spass beim Lesen!

 

Jeannette Berger

 

                                                                                

Literatur

Jesper Juul: Die kompetente Familie, Nein aus Liebe, Nähe, Grenzen, Respekt

Anna Tardos: Ich, du und wir. Frühes soziales Lernen in Krippe und Familie

Aletha J. Solter: Wüten, toben, traurig sein