Rezension zu

„Begleitungskunst in Eltern-Kind-Gruppen“

von Maria Luisa Nüesch, Grabs 2015

Dieses von aussen betrachtet unscheinbare Buch beinhaltet einen grossen Schatz an Erfahrung und Weisheit.
In einer Gesellschaft und Zeit, die von Konsum, Leistung und Geschwindigkeit bestimmt wird, braucht es dringend eine Rückbesinnung auf die wesentlichen Aspekte des Lebens, insbesondere in der Begleitung unserer jüngsten Mitmenschen. Darauf beruhen auch die Grundsätze der „Wiegenstuben“, in eine solche die Leserschaft einen kleinen, aber berührenden Einblick erhält.

Werte wie Achtsamkeit, zwischenmenschliche Beziehung, intuitives Wahrnehmen und Respekt sind hier von zentraler Bedeutung. Durch ein Minimieren von Reizen, mit natürlichen Materialien und haltgebenden Ritualen wird Ruhe, Wärme, Sicher- und Geborgenheit vermittelt. In einem solchen Raum und Rahmen können sich Kinder entfalten, ohne Druck und Erwartung. Das Kind soll nicht von aussen mit Eindrücken zugeschüttet werden, es soll den Zugang zu sich selbst finden und seiner eigenen Lebendigkeit Ausdruck verleihen können.

Maria Luisa Nüesch greift alle wichtigen Themen der Kleinkindjahre auf und beleuchtet die Fallstricke moderner Eltern. So beschreibt sie die weit verbreitete Vereinsamung westlicher Mütter, das immer frühere Abschieben in Fremdbetreuung, das Lenken der elterlichen Aufmerksamkeit weg vom Kind und seinen subtilen Äusserungen hin zu technischen Medien, die dadurch entstehende Distanz zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen, indem ersteres zum Beispiel fast nur noch durch eine Fotokamera wahrgenommen wird.

Kinder brauchen jedoch ganz viel wohltuende Wärme, unmittelbare Nähe, direkten Körper- und Blickkontakt. Sie wollen wirklich gesehen werden, auf allen Ebenen. Dazu zeigt die Autorin ganz konkrete Möglichkeiten auf: den Kinderwagen so zu drehen, dass Blickkontakt entsteht, das Kind liebevoll zu tragen, es frei spielen zu lassen, auf vielfältige Weise seine Fantasie anzuregen, die Welt (in erster Linie die Natur) mit allen Sinnen zu erfahren, Halt zu bieten, wenn das Kind es braucht, aber loszulassen, wenn es seine Umgebung selbständig erkunden möchte.

Hinter all dem steht eine ganz wichtige Erkenntnis, nämlich die, dass Kinder als völlig kompetente Wesen geboren werden, die nicht erzogen und zurechtgebogen werden müssen. Sie sind höchst sensible kleine Menschen, die Respekt, Wertschätzung, liebevolle Zuwendung und permanenten Schutz verdienen.

Als Autorin von „Ich will bei euch schlafen!“ und Befürworterin von Co-Sleeping erhält das Buch von mir einen kleinen Abstrich: Auf Seite 123 wird geraten, ein kleines Kind wach und alleine ins Bettchen zu legen, damit es lerne, selbständig einzuschlafen. Da wird leider eine völlig veraltete Annahme vertreten, die ich nicht gutheissen kann, da sie in vielen Familien zu sehr viel Stress führt. Kinder sollen und dürfen so lange liebevoll in den Schlaf begleitet werden, wie sie das brauchen. In den ersten Wochen bietet sich das Tragen und die damit verbundene beruhigende Bewegung an, mit zunehmendem Alter reicht es, wenn sich die Bezugsperson zusammen mit dem Kind hinlegt. In den ersten drei Lebensjahren sind die allermeisten Kinder beim Einschlafen auf Nähe und Körperkontakt abgewiesen, um entspannt loslassen und in

 

den Schlaf gleiten zu können. Solche Kinder sind später nicht etwa verwöhnt. Sie haben vielmehr eine stabile Basis an Vertrauen aufbauen können, die es ihnen bald schon ermöglicht, die Nacht und das Schlafen angstfrei zu erleben.

Abgesehen vom Thema „Einschlafbegleitung“, das auch nur am Rande erwähnt wird, ist es ein sehr bereicherndes und wertvolles Buch, das sowohl für Eltern als auch alle Fachleute im Bereich Kleinkindbetreuung empfehlenswert ist.

Sibylle Lüpold
Herrenschwanden, den 3. Oktober 2015